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Intransparente Lieferketten und der Preis der Angst

August 2022
Weshalb Anleger im aktuell inflationären Umfeld einen stärkeren Fokus auf das soziale Engagement von Unternehmen legen sollten, erklärt Leon Kamhi, Head of Responsibility bei Federated Hermes.
Federated Hermes
Leon Kamhi, Federated Hermes

Zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDGs) gehören die Beseitigung der Armut (Ziel 1) und die Gewährleistung menschenwürdiger Arbeit für alle (Ziel 8). Diese stellen wichtige Grundlagen für den Aufbau erfolgreicher Gesellschaften und Volkswirtschaften dar, sagt Leon Kamhi, Head of Responsibility bei Federated Hermes, in seinem aktuellen Marktkommentar.

Viele der Probleme, auf die diese beiden SDGs abzielen, sind überproportional häufig in Lieferketten zu finden, aufgrund ihrer komplexen, dynamischen und intransparenten Funktionsweise. Obwohl das Problembewusstsein wächst, bestehen Armut, moderne Sklaverei und Ungleichheiten nach wie vor. Angesichts neuer strenger Vorschriften in den USA und der EU werden jedoch immer mehr Unternehmen unter Druck geraten, ihre Lieferketten zu überprüfen und Menschenrechtsverletzungen zu ermitteln und zu bekämpfen.

Inflation, Pandemie und Klimakrise – die Bedingungen verschärfen sich

Die explodierenden Kraftstoff- und Lebensmittelpreise sowie die Covid-19-Pandemie haben in den vergangenen zwei Jahren viele Menschen an den Rand der Armut gebracht. Die Klimakrise wirkt sich zudem negativ auf die Arbeitsbedingungen von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt aus. Im Jahr 2019 berichtete die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO), dass 80 Millionen Arbeitsplätze gefährdet sind, wenn die prognostizierte Temperaturerhöhung eintritt und die Arbeitsproduktivität durch unzumutbare Arbeitsbedingungen beeinträchtigt wird. Einkommensschwache Arbeitnehmer, die im Freien arbeiten, wie etwa in der Landwirtschaft oder im Baugewerbe, sind besonders anfällig für die Hitzebelastung. Denn diese lässt ihr Arbeitsleben zur Qual werden und beeinträchtigt die Produktivität und den Produktionsprozess erheblich. In Indien und Pakistan herrschte in diesem Frühjahr eine Hitze von fast 50 °C, was als Warnung für zukünftige Wetter-Krisen zu verstehen ist.

Intransparente Lieferketten gefährden das gesellschaftliche Gleichgewicht

Vor diesem Hintergrund sind die ökonomischen Argumente für unternehmerisches Handeln zwingend. Soziale Ungleichheit ist ein systemisches Risiko, das die politische und wirtschaftliche Stabilität gefährdet. Ein Engagement gegenüber umfassenderen Interessengruppen und für wirtschaftliche Nachhaltigkeit muss auch dazu beitragen, Gemeinschaften aus der Armut zu führen und Wege zu finden, um die Betroffenen und Benachteiligten zu integrieren. Abgesehen von den ethischen Gründen hinsichtlich der Achtung der Menschenwürde und der Tatsache, dass Zwangs- und Kinderarbeit illegal ist: Die Kompetenz, Menschenrechtsrisiken zu benennen und wirksame Menschenrechtsstrategien umzusetzen, ist ein Zeichen für ein solides Risikomanagement in Unternehmen.

Schließlich sind menschenwürdige Arbeitsbedingungen und faire Beschäftigung seit vielen Jahren in internationalen Normen verankert. Und zwar in den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) und in den Verhaltenskodizes der Unternehmen. Die Verantwortung der Unternehmen für die Achtung der Menschenrechte ist in den Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte (UNGPs) festgeschrieben. Aufbauend auf diesen „Soft Law“-Erwartungen werden die aktuellen und anstehenden Vorschriften Unternehmen weltweit vor große Herausforderungen stellen, die unter Umständen unwissentlich an Menschenrechtsverletzungen in ihren Betrieben und Lieferketten beteiligt sind.

Zeit zu handeln: Investoren in der Pflicht

Verantwortungsbewusste Investoren sollten sich an den UNGPs orientieren und ein klares Grundsatzpapier sowie Governance- und Führungsmechanismen entwickeln, um sicherzustellen, dass offenkundige Menschenrechtsrisiken untersucht werden und eine angemessene Sorgfaltsprüfung durchgeführt wird. Hierzu sollte ein Engagement in Unternehmen oder Sektoren mit hohem Risiko zählen. Die Principles for Responsible Investment (PRI) haben wertvolle Leitlinien entwickelt, wie der gesamte Prozess im Hinblick auf Menschenrechte und soziale Fragen beschleunigt werden kann. So haben die PRI vor Kurzem eine neue Stewardship-Initiative namens „Advance“ ins Leben gerufen, bei der institutionelle Anleger zusammenarbeiten werden, um Maßnahmen zur Förderung der Menschenrechte und sozialer Belange zu ergreifen. Die Investoren werden ihren kollektiven Einfluss auf Unternehmen und andere Entscheidungsträger nutzen, um konkrete Ergebnisse für Arbeitnehmer, Gemeinschaften und die Gesellschaft zu erzielen.

Fokus auf Engagement

Investoren sollten einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, um mit Unternehmen in diesen Fragen zusammenzuarbeiten. Beispielsweise kann ein US-Unternehmen bei der Umsetzung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in seiner Lieferkette schlecht abschneiden, während hingegen ein taiwanesisches Unternehmen in der gleichen Lieferkette möglicherweise Probleme mit seinen unmittelbaren Beschäftigten hat.

Unternehmen können sich verpflichten, existenzsichernde Löhne zu zahlen, aber dies gilt eher für die direkt Beschäftigten. Während sich Unternehmen dazu verpflichten können, in ihrer gesamten Lieferkette existenzsichernde Löhne zu zahlen, ist es weithin unstrittig, dass es keine klare Definition dafür gibt, was dies bedeutet oder wie dieser Lohn zu entrichten ist – insbesondere in Märkten mit niedrigem Einkommen, wo dies am relevantesten sein könnte.

Für das Jahr 2022 erwarten wir einen stärkeren Fokus auf das Engagement, um Unternehmen dabei zu unterstützen, ein klares Verständnis für die wichtigsten Menschenrechtsfragen in ihren Betrieben und Lieferketten zu entwickeln. Wir werden prüfen, ob wirksame und verhältnismäßige Kontrollen vorhanden sind, um diese Probleme zu erkennen, zu entschärfen und zu beheben.