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Arbeitskraft günstiger absichern

Printausgabe | Oktober 2022
Die Grundfähigkeitsversicherung gewinnt bei Verlust der Arbeitskraft zusehends an Bedeutung. Die Police lässt sich scheinbar leicht vereinbaren, aber der Eindruck täuscht. Die Versicherer definieren die Fähigkeiten unterschiedlich – doch das entscheidet über Leistungen im Ernstfall.
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Die Grundfähigkeitsversicherung ist eine Risikoversicherung angelsächsischer Herkunft, die für körperlich Tätige, Menschen mit Vorerkrankungen, Übergewichtige oder Raucher eine abgespeckte Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung darstellt. Letztere ist zwar die hochwertigste Arbeitskraftabsicherung, doch ist diese für viele Verbraucher aufgrund finanzieller und gesundheitlicher Gründe nicht realisierbar, erklärt Andreas Ludwig, Bereichsleiter Rating & Analyse des Analysehauses Morgen & Morgen. Denn „nicht alle, insbesondere diejenigen in körperlich hart arbeitenden Berufen und solche mit Vorerkrankungen, können sich die doch relativ hohen Monatsprämien von über 100 Euro und mehr im Monat leisten“, meint Michael H. Heinz, Präsident des Bundesverbandes Deutscher Versicherungskaufleute (BVK). Die Fähigkeit, einen bestimmten Beruf auszuüben, oder überhaupt zu arbeiten, spielt für die Zahlung der versicherten Grundfähigkeitsrente grundsätzlich keine Rolle.

Doch beim Abschluss der Grundfähigkeitsversicherung ist es mit einem schlichten Vergleich der Anzahl versicherter Grundfähigkeiten und der Prämie nicht getan. Vielmehr spielen die Versicherungsbedingungen eine entscheidende Rolle. Denn diese definieren die Versicherer nach eigenen Vorstellungen. Das heißt: Bei einem Versicherer muss die jeweilige Grundfähigkeit stärker beeinträchtigt sein oder wird anders gemessen als beim Konkurrenten.

Zum möglichen Verlust von scheinbar selbstverständlichen Grundfähigkeiten wie Sehen, Hören oder Sprechen, Gehen, Treppensteigen, Sitzen, Heben und Greifen muss also zuerst einmal klar sein, wie diese Tätigkeiten vom Versicherer verstanden werden. Was muss ich als Versicherter z. B. noch heben oder halten können, um die Leistung des Versicherers auszulösen, ein Wasserglas von vielleicht 200 Gramm oder fünf Kilogramm Zucker? Und wie lange muss ich das halten können? Die Antworten müssen Fachärzte geben. Denn alle Verluste von Grundfähigkeiten müssen medizinisch belegt sein – und dies für wenigstens sechs oder gar zwölf Monate, damit der Versicherer eine Grundfähigkeitsrente zahlt.

Die unterschiedlich bewerteten rund 35 Grundfähigkeiten, die sich inzwischen versichern lassen, machen die Grundfähigkeitsversicherung zu einem komplexen Produkt. Am Beispiel des Gleichgewichtssinns aus der Untersuchung von Philip Wenzel, Geschäftsführer des Biometrie Expertenservice, der die verschiedenen Grundfähigkeiten unter die Lupe genommen hat, wird das offensichtlich. So liegt der Verlust des Gleichgewichtssinns bei der Swiss Life dann vor, „wenn die versicherte Person weder zehn Meter entlang einer imaginären Linie (Strichgang) mit geschlossenen Augen ohne Fallneigung auf festem und ebenem Boden mit einem für Gehwege üblichen Bodenbelag gehen noch 50 Schritte auf fester und ebener Stelle mit geschlossenen Augen treten kann, ohne sich dabei um mindestens 45 Grad zur Seite zu drehen oder mit geschlossenen Augen und parallelem Fußstand keine 60 Sekunden auf fester und ebener Stelle stehen kann, ohne Fallneigung zu bekommen“.
Das haben mehrere Versicherer ähnlich formuliert. Basler und Nürnberger verlangen dagegen andere Beweise für den Verlust des Gleichgewichtssinns, doch auch diese sind schwer zu überprüfen, wie Wenzel betont. So schreibt die Nürnberger: Der Gleichgewichtssinn muss infolge einer organischen Erkrankung oder Verletzung so stark eingeschränkt sein, „dass die versicherte Person nicht mehr auf der obersten Stufe einer dreistufigen Haushaltsleiter fünf Minuten frei stehen bleiben kann (das heißt, ohne sich abzustützen und ohne sich festzuhalten)“.

Für die Gothaer liegt ein Verlust des Gleichgewichtssinns vor, wenn dieser „wegen einer körperlichen Ursache nicht mehr oder nur noch stark gestört funktioniert. Das bedeutet, dass die versicherte Person nicht mehr ohne „stark erhöhte Unfallgefahr“ Leitern mit einer Arbeitshöhe von einem Meter besteigen oder auf Gerüsten in einer Arbeitshöhe von einem Meter arbeiten kann. „Stark erhöhte Unfallgefahr“ ist dabei definiert als Kategorie B-D nach arbeitsmedizinischer Beurteilung der Gefährdungskategorien. Allianz, Canada Life, DEVK, Dortmunder und Volkswohl Bund sprechen zwar auch von der „stark erhöhten Unfallgefahr“, aber definieren diese nicht weiter, erklärt Philip Wenzel. Gleichwohl kommt keine versicherte Person im Leistungsfall an einer arbeitsmedizinischen Untersuchung vorbei.

Und diese Austarifierung und Differenzierung setzt sich fort. „Der Markt der Grundfähigkeitsversicherung als Einkommenssicherung scheint weiterhin zu explodieren“, beobachteten die Experten von Morgen & Morgen bereits im vergangenen Jahr. „Die Tarife der Grundfähigkeitsversicherung sprießen wie Pilze aus dem Boden“, so die Einschätzung und weiter: „Waren es in 2020 noch 53 Tarife und Tarifkombinationen, sind es heute 78.“ Im laufenden Jahr sind daraus schon 122 Tarife und Tarifkombinationen geworden.

Inzwischen hat nahezu jeder Versicherer unterschiedliche Grundfähigkeiten-Kataloge zusammengestellt, die vom einfacheren bis zum höherwertigen Angebot reichen. Beispielsweise hat die Basler Versicherung im laufenden Jahr ihren Bronzetarif näher an die höherwertigen Silber- und Goldversionen ihrer Grundfähigkeitsversicherung herangeführt. Jetzt sind bei diesen Tarifen auch Heben und Greifen sowie Mobilität abgesichert. Gleichzeitig drängen immer mehr Lebensversicherer auf diesen Markt, wie z. B. die Barmenia und die Versicherungskammer Bayern.

Mit der Zunahme an Extras und Optionen wird nach Bewertung der Experten von Ascore Scoring am Grundgerüst der Grundfähigkeitsversicherung gerüttelt. Das werde dazu führen, dass die Beiträge steigen. Noch sind sie relativ gering. Morgen & Morgen berechnete beispielhaft die günstigsten Angebote für eine Dachdeckerin in der Berufsunfähigkeits-, der Erwerbsunfähigkeits- und der Grundfähigkeitsversicherung (siehe Tabelle). Letztere verursachte im Vergleich die geringsten Beiträge, spitzt aber durch den Verlust der konkreten Fähigkeit den Moment der Leistung stärker zu. Die Folge: Die individuelle Betrachtung der Fähigkeiten ist entscheidend. „Was muss der Versicherungsnehmer können, um seinen Beruf auszuüben und wie muss es im Bedingungswerk des Tarifs exakt verankert sein“, bringt Bereichsleiter Ludwig die Herausforderung auf den Punkt.

Allerdings bieten einige Versicherer zu ihrer Grundfähigkeitsversicherung eine Berufsunfähigkeitsoption an. Das bedeutet, dass die Grundfähigkeitspolice in der Regel nach fünf Jahren oder bei Ereignissen wie Studienabschluss oder Ende der Berufsausbildung – ohne viele Fragen zur Gesundheit – in eine Berufsunfähigkeitsversicherung umgewandelt werden kann. Doch darf die oder der Versicherte hierbei noch keine 30 Jahre alt sein, und die versicherte Monatsrente darf derzeit 1.000 Euro, bei anderen Anbietern 1.500 oder 2.000 Euro nicht übersteigen.
Die Stuttgarter Lebensversicherung bietet außerdem die Möglichkeit, mit der Grundfähigkeitsversicherung eine Arbeitsunfähigkeits-Zusatzversicherung zu verbinden. Diese leistet bei längeren Krankschreibungen eine (rückwirkende) temporäre Rentenleistung von bis zu 24 Monaten ab Beginn der Krankschreibung. Das sei, laut Anbieter, ein sinnvoller Brückenschlag zur Berufsunfähigkeitsversicherung. Denn diese Police greift, wenn der Versicherte seinen Beruf dauerhaft wegen Krankheit oder gesundheitlicher Beeinträchtigung zu mindestens 50 Prozent nicht mehr ausüben kann.

Durch den Einschluss bestimmter Grundfähigkeiten kann diese Versicherung sogar die Berufsunfähigkeitsversicherung ausstechen. Das zeigt die relativ junge Grundfähigkeit „Fahrgäste zu befördern“. Denn die verlorene Fähigkeit des Taxi- oder Busfahrens kann – anders als bei einer Berufsunfähigkeitsversicherung – nicht durch den Verweis auf eine andere, gleichwertige Tätigkeit ausgeglichen werden. Auch für eine Erwerbsunfähigkeitsversicherung ist die Person, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr Taxi- oder Busfahren kann, kein Versicherungsfall.

Die Fähigkeit „Riechen und Schmecken“ ist für einen Koch oder Sommelier mit Grundfähigkeitsversicherung ebenfalls ein klarer Versicherungsfall, was sie bei der Berufsunfähigkeitsversicherung nicht ist. Die Grundfähigkeitsversicherung ist zwar in der Regel keine klare Arbeitskraftabsicherung, wie Ludwig erklärt. Gleichwohl beschränkt sich Morgen & Morgen mit Blick auf eine finanzierbare Absicherung für körperlich Tätige auf 15 Grundfähigkeiten als relevante Leistungsauslöser. Die Assekurata Assekuranz Rating-Agentur hat gemeinsam mit dem Biometrie Expertenservice ein Prüfraster entwickelt, „das insbesondere die Leistungsauslöser der Versicherung auf kundenfreundliche und praxistaugliche Formulierungen abtestet“.

Doch mit rein körperlichen Fähigkeiten ist die Grundfähigkeitsversicherung keineswegs am Ende der Fahnenstange angelangt. So bieten einige Lebensversicherer auch die Bildschirmtätigkeit und die Nutzung des Intellekts als Grundfähigkeiten an. Letzteres beinhaltet dann Versicherungsschutz bei zerebralen Störungen durch Demenz, Schizophrenie und Psychosen sowie schwere Depressionen. Außerdem kann die Grundfähigkeitsversicherung bereits für Kinder abgeschlossen werden, und zwar in der Regel ab 5 Jahren. Über den Beginn des Bezugs einer Altersrente hinaus läuft sie aber üblicherweise nicht.